Erlebniswelt eines 12jährigen und seine Veränderung - Ein Dokument
B. Santen
Zusammenfassung
Am Beispiel der Therapie eines zwölfjährigen Knaben wird eine kindgemäße Form des „Focusing“ dargestellt. Bei dem Klienten war es auf der Grundlage schwerster, seit früher Kindheit andauernder Milieuschäden zu hochgradigen Kontaktstörungen mit dranghaften Aggressionshandlungen gekommen. Der Klient ließ sich dazu gewinnen, daß er - neben der Spieltherapie - bei jeder Sitzung eine kurze Geschichte auf Tonband sprach, die beim nächsten Mal gemeinsam mit dem Therapeuten kommentarlos abgehört wurde. So gelang es, gegenüber den dranghaften Impulsen Raum zu schaffen und sie zunehmend zu integrieren. Zugleich konnte der Klient sich allmählich selbst akzeptieren und sich der Umwelt vertrauend und aktiv gestaltend zuwenden. Damit waren die Voraussetzungen für eine intensive Gesprächspsychotherapie geschaffen. Im übrigen entstand mit der Folge der gedichtartigen Erzählungen eine einzigartige Dokumentation des Therapieverlaufs.
(Aus dem Niederländische übersetzt von Wolfgang M. Pfeiffer. Zusammenfassung vom Übersetzer.
Titel des Originals: Aan gene zijde van goed en kwaad. Kinder- en Jeugdpsychotherapie 1987.4-14)
Focusing
Gendlin lernte von Rogers: „Wenn der Therapeut jede Spur einer Selbstexpression des Klienten aufnimmt, sie bestätigt, verifiziert und sie dann so stehen lässt, wie sie ist, ohne sie zu bearbeiten, ohne etwas hinzuzufügen, ohne sie zu „korrigieren“, zu „verbessern“ und zu „deuten“, dann entsteht eine innere Erleichterung, ein Raum, der immer mehr von innen her kommen läßt, bis im Klienten ein Veränderungsprozeß in Gang kommt, der sich aus eigener Dynamik weiter entwickelt“ (Gendlin. 1986).
Meine Arbeit als klientenzentrierter und erlebensorientierter Therapeut hat mich gelehrt, daß dies nicht allein für Erwachsene gilt, sondern auch für die verletz1ichen Kinder und Jugendlichen, die ich in meiner Arbeit antreffe.
Gendlin hat der weiteren Entwicklungen dieser Einsicht sein Leben geweiht. Er hat die Methode verbessert, durch die wir einem anderen helfen können, der vagen, aber vielfältige Vorgänge, die in seinem Inneren ablaufen, gewahr zu werden. Und zwar ohne daß wir uns in seinen Prozeß einmengen. Gendlin nannte diese innere Aufmerksamkeit „Focusing“ (Gendlin, 1981: Santen und Gendlin, 1985).
Statt eine technische Darstellung der Focusingmethode zu geben. werde ich zwei ,AAaspekle der Methode beschreiben das Schaffen von Raum und den Umgang mit dem sogenannten ‚inneren Kritiker’.Danach werde ich auf die Behandlung von Ronald eingehen.
Enleitung
Kurz bevor er 1924 verstarb, machte Franz Kafka folgende Bemerkung: „Das Schlechte soll schlecht bleiben, sonst wirds noch schlechter“ (Kafka 1958, S. 487). Kafka muss sich schmerzlich bewusst gewesen sein, wovon er sprach. Während seines ganzen Lebens war der Mann, von dem man sagte, dass er sich wie ein Heiliger verhielt, eingefangen in den anhaltenden Kampf mit seinen inneren Demonen und seinen suizidalen Wünschen. Das hatte ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Auf die eine oder andere Weise war er nicht imstande, das zu tun, was er intuitiv als eine Möglichkeit fühlte, aus dem Käfig zu entkommen.
>> Ist es möglich, etwas Untröstliches zu denken ? Oder vielmehr etwas Untröstliches ohne den Hauch des Trostes? Ein Ausweg läge darin, dass das Erkennen als solches Trost ist. Man könnte also wohl denken: Du musst dich beseitigen, und könnte sich doch ohne eine Fälschung dieser Erkenntnis aufrechterhalten am Bewusstsein, es erkannt zu haben. Das heisst dann wirklich an den eigenen Haaren sich aus dem Sumpf gezogen habe. Was in der körperlichen Welt lächerlich ist, ist in der geistigen möglich.>> (Kafka 1980, S. S2)
Es ist diese Einsicht auf der ein grosser Teil der Behandlung von Ronald beruht. Auch Ronald beschrieb das Gefühl, eingekerkert zu sein. Ebenso wie Kafka hatte dieses Kind seine Gefühle völ1ig abgekapselt. Ronald gelang es jedoch, sich selbst aus dem Sumpf herauszuziehen, so wie Kafka es sich vorstellte. Dazu war die Anwesenheit einer Person nötig, die ihm auf akzeptierende Weise Gesellschaft leistete, ohne inhaltlich in seinen lherapeutischen Prozess einzugreifen. Nachfolgend werde ich einen Teil dieses Prozesses beschreiben und auch die Art und Weise, wie ich ihn begleiten durfte, um die Entwicklung dieses Prozesses zu erleichtern.
Psychiatrisch wurde Ronald als ein Kind mit einem Borderline-Syndrom diagnostiziert. Anderenorts habe ich eine Beschreibung dieses Syndroms gegeben, sowie eine detaillierte Darstellung der Behandlung mittels der Focusing-Methode bei einem Jugendlichen mit einer Borderlinestörung (Santen, 1988). In diesem Artikel möchtc ich die Aufmerksamkeit vor allem auf ein zugrundeliegendes Phänomen richten, das wir bei vielen ernstlich traumatisierten Kindern sehen, nämlich auf die Anwesenheit eines „frühen“ Traumas, welches zu unerträglicher Wut und Angst Anlass gibt: infolgedessen werden Gefühle stark unterdruckt.
Auch Ronald war in einem derartigen inneren Konflikt gefangen. Ich will versuchen, einen Teil dieses inneren Kampfes mit Hilfc von Beispielen aus seiner Therapie zu illustrieren. Hiermit möchte ich zugleich verdeutlichen, dass das Arrangement der Focusingmethode einem Kind helfen kann, einen Weg zu finden, um mit seinem Trauma und den hieraus hervorströmenden intensiven Gefühlen umzugehen, so dass er die innre Unterdruckung aufgeben kann und sich selbst besser zu akzeptieren verrnag.
Raum schaffen (clearing a space)
Raum zu schaffen ist beim Focusing der erste Schritt. Wenn wir jemanden hierbei begleiten, bitten wir ihn, in Stille seine Aufmerksamkeit auf die Mitte seines Leibes zu richten, um in der Folge dem nachzugehen, wasihm aufkommt, wenn er sich selbst fragt, ob er imstande ist, sich völlig >gut zu fühlen<. Wenn etwas zum Vorschein kommt, was diesem Sich-gut-fühlen im Wegc zu stehen scheint, dann bitten wir den Klienten, daran nicht zu >arbeiten< sondem einen Raum zu schaffen zwischen ihm selbst und dem, was da im Wege steht. In der Folge wird der Klient gebeten zu erkunden, ob da noch mehr im Wege ist. Dies wird nun solange getan, bis jedes Hindernis für den Augenblick einen eigenen Ort erhalten hat. Dieses >einen Ort geben< geschieht, ohne dass di Schwere dessen, was da zum Vorschein gekommen ist, geleugnet wird. So werden alle Hindernisse auf diese Weise akzeptiert und gleichsam willkommen geheissen.
Im Laufe der Jahre hat sich dieser erste Focusingschritt als sehr wichtig erwiesen (Gendlin. 1982, Grindler, 1982; McGuire, 1982, Coffeng, 1986). Wenn Klienten gelernt haben, hinsichtlich ihrer Blockaden diese neue Haltung zu entwickeln. dann entfaltet sich der Rest des Focusingprozesses vcrhältnismässig leicht.
In unserem Fall-Beispiel finden wir die Bestätigung, wie wichtig diese Veränderung für die Art und Weise ist, wie sich das Kind zu sich selbst verhält. Anfänglich schien Ronald nichts anderes sein zu können als die ihn überflutenden Probleme. Gendlin nennt diese Art des Erlebens >strukturgebunden< (Gendlin, 1984). Bestimmte Reize neigen dazu, immer wieder die gleichen Gefühlen und Gedanken aufzurufen, wodurch sie sich einem Bedeutungswandel der Situation entziehen. Doch wiederholten sich Ronalds Erfahrungen nicht allein, sondern sie wurden auch als ihm nicht zu eigen erlebt. Er schien gleichsam der Zuschauer seines eigenen Films zu sein, ohne aber zu erfahren. dass er ihn selbst betraf. Wie wir sehen werden, ist das Entickeln des richtigen Abstandes nötig, um von daher aus dieser Patstellung herauszukommen und einen durchlebten Prozess in Gang zu bringen. Despestele ( 1983) hat sich näher mit dem Mechanismus befasst, der diesem Schaffen von Raum zugrunde liegt. Wie er angibt, kann sich auf diese Weise ein >Ich< in ein neues Verhältnis zu verschiedenen >Es< differenzieren. Statt alle diese >Es< zu sein, kann der Klient hinsichtlich dieser >Es< allmählich ein Gefühl entwickeln. Das was den Klienlen bisher völlig ausmachte, und das, was er ständig wiederholtc, all das kann er nun als eine davon gesonderte Person erfahren. Infolgedessen kann sich allmählich ein aktives und betrachEgo entwickeln. Auch kann dieser Differenzierungsprozess zur Formung von Ich-Grenzen beitragen.
l. Der innere Kritiker (inner critic)
Nach derTheorie der Focusingmethode haben wir alle eine innnere kritische Instanz, mit der wir umzugehen lernen müssen. Sie sagt uns beispielsweise, dass wir nicht so überempfindlich sein sollen, dass wir schlecht oder verrückt seien, wenn wir etwas fülhlen oder denken, was sie missbilligt oder nicht wünscht. Vor allem traumatisierte Kinder haben oft eine schmerzliche Geschichte mit dieser heftig aggressiven Stimme, die für das Gute steht und gegen das Böse kämpft. Diese Stimmc verhindert, dass sie mit der Vielfarbigkeit ihrer inneren Welt in Kontakt kommcn. Namentlich wird durch sie verhindert dass die dunklen Seiten ihres Inneren sich erfahren lassen. Gendlin (1982b, 1984} behauptet, dass diese Stimme - sie stammt ursprünglich von der kritisierenden Haltung der Eltern ab - nicht nur introjiziert ist, sondern auch strenger und anspruchsvoller geworden ist, als die Eltern jemals tatsächlich waren. Kinder wie Ronald probiercn verzsweifelt, vollkommen zu sein aber ehe sie es wissen, entkommt ihnen wieder schlechtes Verhalten: es ist als ob die aufgejagten Kräfte >den Jäger würgen<
(Kafka 1952, S. 42). Als Folge hiervon fühlen sie sich wertlos und hilflos. Sie fühlen sich einem anhaltenden inneren Kampf zwischen Gut und Böse ausgeliefert; anhaltend, weil der innere Kritiker seinem Gegenspieler, der auf destruktive Weise zurückschlägt, das Lebensrecht verweigert. Da sie es sich selbst nicht zugestehen stehlen zu wollen, entdecken sie, dass ihre Hände wie von selbst stehlen. Sie ekeln sich vor ihrem schmutzigen Körper, vor ihrer Sexualität und sind gleichzeitig von sexuellen Themen besessen Im Frage ist, wie man sich diesen Kraften therapeutisch annähern soll. Dabei müssen wir uns vorstellen, dass der beschriebene Mechanismus ihn der ursprünglichen traumatischen Situation eine Weise, unerträgliche Ängste im Zaum zu halten. Extreme Angst vor Vergeltung und vor Liebesverlust kann ein Kind zu vorbeugenden Massregeln gezwungen haben. Lieber wird es selbst einen Teil seiner Gefühle und Bedürfnisse unter Zensur stellen und unterdrücke, als dass es schliesslich mit der erwarteten Abweisung derjenigen konfrontiert wird, von denen es abhängig ist.
Wenn das auch eine lähmende Lösung ist, so ist es doch eine Lösung, und sie besteht noch immer, wenn ein Kind in Therapie kommt. Das strukturgebundene Kind erlebt den Therapeuten erneut als eine Person, die schon bereit steht, Rache zu nehmen wenn erährt, was da Schlechtes in dem Kinde umgeht. So wird neben den Angriffen durch den innerlichen Kritiker auch ein Angriff des Therapeuten gefürchtet.
Aus diesem Grunde müssen wir acht geben, dass wir nicht implizit die Partei des inneren Kritikers wählen. Wir dürfen ihm also nicht zugestehen, dass er die ganze Kampfszene beherrscht. Statt dessen werden wir uns implizit von dem inneren Kritiker einigermassen distanzieren müssen, um dem Kind zu ermöglichen, dass es >>mittelbar den Unterschied erfährt zwischen diesen Über-lch-Haltungen und den Gefühlen, die im Zentrum seines eigenen Leib entstehen<< (Gendlin, 1982).
Wir müssen uns jedoch davor hüten, dem inneren Kritiker in seine eigene Weise zu nahen. Wir werden ihn in seinem Bestehen anerkennen müssen. Wir nähern uns ihm als jemandem, der Augenscheinlich seine guten Gründc hat um fortwährend negativ beurteilen und wir bitten ihn, eben einen Schritt zur Seite zi treten um der erstickten inneren Stimme ein bisschen Luft zu geben. Gelingt es uns so, den inneren Kritiker zu respektieren, dann zeigt sich hinter seiner harten Fassadc oft Gefühle von Angst, Wut oder Verletzlichkeit verborgen. Wenn all diese Kräfte durch das Kind und durch uns akzeptierend aufgenommcn werden, dann werden die Ängste vielleicht ihren Nährboden verlieren. Ein Prozess der Integration kann dann stattfinden.
Ronald
Ronald wurde mir als ein einsamer Jungen beschrieben, der kaum Nähe vertragen könnte. Im Kleinkindesalter waren seine Grenze ernstlich verletzt worden. Er wurde geschlagen. Er war gezwungen, seine Mutter als Prostituierte arbeiten zu sehen. Auch wurde er regelmässig zur Strafe eingesperrt. Angst färbte Ronalds Leben. Die Wirklichkeit war ihm augenscheinlich zu abschreckend und unbeherrschbar geworden. Allmählich hatte er sich in bizarre Verhalten und in eine märchenhafte Welt voller Phantasien zurückgezogen. Er zog es vor, Beziehungen mit Objekten einzugehen und nicht mit Menschen, wie aus seinen stereotypen Aktivitäten und Beschäftigungen hervorgeht. Mitunter erweckte er den Eindruck. pychotisch zu sein. Ronald versuchte krampfhaft, sich gut
zu betragen. Vergeblich unterdrückte er seine stark aggressiven Gefühle. Bald richtete sich seine Aggression gegen ihn selbst, dann wieder zeigte er sadistisches Verhalten. Mitunter fielen auch seine
Hemmungen ab und er brach in Wut aus. Ronald hatte vicl Angst vor Strafe.
Das Verbalisieren von Gefühlen fiel Ronald schwer. Er schien den emotionalen Wert von Worten nicht zu begreifen. Dinge warcn nur >>hübsch<< oder nicht hübsch<. Ronald war zu sehr ausgeliefert, um flexibel zu sein. Er konnte keinen Abstand bewahren. Sein Spiel wiederholte sich fortwährcnd auf gleiche Weise: wenn er einen Turrn baute, und es ging etwas schief; dann versuchte er es auf völlig gleiche Weise emeut.
In der Klinik war es schwierig. Ronald nahe zu kommen. Er sprach niemals über seine früheren Erlebnisse. Zwanghaft war er mit Bosheiten und rnit der Befriedigung seiner Lustgefühle beschäftigt, aber gleichzeitig setzte er sich mit aller Kraft gcgen diese anhaltenden Bedürfnisse zur Wehr. Ronald ekelte es vor sich selbst. Er bestrafte sich selber. um so der Bestrafung durch Gott zuvorzukommen.
Im allgemeinen war Ronald zu aufgeregt und stand zu sehr unter Zwang, als dass er über sein Verhalten und die zugrunde liegenden Bedürfnisse hätte reflektieren können.
Als Ronald und ich einander zum erstenmal begegneten (er war damals 12 Jahre alt), fiel mir vor allem sein gezwungenes Lächeln auf: Er war ruhelos und fortwährend in Bewegung. Er nannte mich einen >>Spion<< und versuchte, mich zu demütigen. Wenn ich ihn etwas fragte, schnitt er mich mit mich mit dem Hinweis ab, dass dies >>privat<< sei: andererseits versuchte er deutlich, Kontakt aufzunehmen. Jedesmal verschloss er sich wieder und wollte dann,dass ich ihn suchte. Wenn ich ihn fand, zeigte er seinen Mangel an Grenzen an: „dann bin ich verloren“ sagte er. „dann kannst Du aIlles mit mir tun.
In seinem Spiel liess Ronald erkennen. dass wir vielleicht das Dunkel seiner unterdrückten Vergangenheit unter mciner Anleitung würden untersuchen können. Er kroch in eine Kiste mit Rädern und bat mich, ihm die Augen zu verbinden: dann musste ich ihn im Zickzack durch das Spielzimmer fahren. Jedesmal wenn wir anhielten, tastete er mit seinen Händen um zu entdec,ken, wo wir uns befändcn.
Während der fünften Sitzung erzählte Ronald mir etwas , das mir einen Anknüpfungspunkt verschafte. Er sagte, dass ihm Gedanken durch den Kopf jagten, die aber gleich wieder vertrieben würden. Von sich aus bezeichnete er die beiden davon betroffenen Instanzen alls „der Teufel“ und .“der Engel“.
Während des Spiels war inzwischen deutlich geworden, dass Ronalds unterdrücktes Bedürfnis, sich schlecht zu betragen, allen Bemühungen um gutes und angepasstes Verhalten trozte. In dem Augenblick, wo er erklärte, dass er immer auf den Engel hörte, schossen seine Hände auch schon vor, um dus Gegenteil zu beweisen. Zu dieser Zeit empfand Ronald noch nicht, dass sein Verhalten und die ihm zugrundeliegende Antriebe aus ihm selbst stammten. Sein Bedürfnis wurde von ihm externalisiert erlebt, als eine teuflische Kraft, die einen überflutet und die bewirkt, dass man wehrlos gegen den eigenen Willen handelt.
An diesem Punkte angelangt beschloss ich, Ronald eine Möglichkeit zu lehren, Raum zu schaffen. Ich bat ihn eine Geschichte zu schreiben und gab ihm als Titel >>Der Teufel und der Engel <<. In diesem Augenblick und auch später versuchte ich, auf keine Weise Einflusz darauf auszuüben, was er schrieb. Ich enthielt mich jeden Kommentars. Ronald schrieb. Als ich ihn darum bat, sprach er seinen Text in das Tonbandgerät. Dann lautschten wir schweigend seiner Geschichte. Auf diese Weise versuchte ich, ihm zu helfen, einen erlebnismässigen Unterschied zu schaffen zwischen ihm selbst als Person und all dem, was er in seiner Erzählung über Teufel und Engel symbolisiert hatte.
Nachdem wir so gemeinschaftlich gelauscht hatten. fand unsere Spieltherapiesitzung statt. Die Geschichte wurde auf dem Ton-band aufbewahrt. Während der folgenden Monate begannen wir jede Sitzung auf die gleiche Weise. Erst hörten wir uns gemeinsam das Band an, dann bat ich Ronald. eine neue Geschichte auszudenken. Nach diesem ersten Mal gab ich keine Titel mehr auf. Jede Geschichte wurde in Anschluss an die vorhergehende auf das Band aufgenommen und aufbewahrt. So entstand allmählich eine Serie von thematisch miteinander verbundenen Geschichten, ohne dass ich hinsichtlich des Inhalts einen Kommentar gab. Dies erwies sich als ein Vehikel welches Ronalds experientiellen Prozess beträchtlich erleicherte
Die erste Geschichte bestand nur aus einer Aneinanderreihung zu-samrnenhangloser Sätze, die aufgeregt und ängstlich niedergeschrieben wurden. Für Ronald war es beinahe unerträglich dies zu tun. Jeder Abstand fehlte. Wiederholt musste er sein Schreiiben unterbrechen, um sich durch ungezogenes Verhalten zu entladen. Die Sätze lauteten wie folgt:Der Teufel will mich verführen: „Du solsst ungezogen sein“ und der Engel sagt: „Du sollst lieb sein“. „Du sollst ein Kind treten“, sagt der Teulel. „Tu es nicht“, sagt der Engel.
Wie wir sehen, findet hier noch kein Dialog statt zwischen diesen sich indirekt bekämpfenden Kraften, die externalisiert werden. Auch sehen wir noch keinen Hinweis auf Ronalds eigene Bedürfnisse. Ohnehin werden hier noch keine Gefühle angedeutet.
Wie aus der sich entwickelnden Geschichteenreihe erkennbar wird, ermöglichte die hier gebrauchte Focusing-Übung Ronald, neue Bedeutungsaspekte zu erfahren. In seinen ersten paar Erzählungen kam er zu einer ersten Differenzierung: er unterschied die aggressive Aussenwelt von seinen eigenen aggressiven Bedürfnissen. Auch begann er immer mehr auf seine eigene Realität zu verweisen.
Die zweitc Erzählung schien sich auf Ronalds Angst vor mir zu beziehen. In dieser Geschichte >>Der böse Mann führte ein vertrauenswürdiger Mann einen Jungen in die Irre. Er nahm ihn gefangen und trat ihn mit Füssen. Sowohl der Aggressor wie das Opfer hatte in der Geschichte Fassaden, hinter denen ihre wahren Intentionen und Gefühle verborgen blieben. Die strukturgebundene Weise, in der Ronald mich erlebte, färbte auch die folgende Gcschichte, wworin en Polizist durch eine >>frremde Frau<< gemieteet war, um den bösen Jungen einzuschliessen. Ich liess ihn ruhig mit seinem Gefühl in Kontakt kommen und leistete ihm dabei still Gesellschaft. Das Thema der Vertrauenswürdigkeit stand in dieser Zeit auch währcnd der Spieltherapiesitzungen in Ronalds Spieäusserungen im Zentrum. In den Gechichten verblich es.
Nach einigen Wochen wurde die Serie langer. Jedesmal liess ich Ronald zunächst die vorausgegangenen Geschichten anhören, so dass er auf das, was er hierin syrnbolisiert hatte, nunmehr mit seinem aktuellen Gefühl aus einigem Abstand Resonanz geben konnte, und ich liess ihn nachgehen, ob das nun genau zueinander passte. Hierdurch veränderte sich sein Gefühl, und es kam zu einer grosseren Differenzierung.
In der folgenden Geschichte richtete sich Ronalds Misstrauen auf eine Gestalt, der dieses Gefühl augenscheinlich urprünglich schon galt. Die Mutterfigur wurde zu einer grausamen, hässlichen Hexe mit einer freundlich-verführerischen Fassade. Nachdem es ihm aber möglich geworden war, diese phantasierte Übersteigerung der Muttergestalt in erschreckender und grausamer Weise zum Ausdruck zu bringen, wurde seine nachfolgende Geschichte realistischer und liess zunehmende Einsicht in die Diskrepanz erkennen, die zwischen seinen wirklichen Gefühlen und den der Umgebung vorgespielten Erlebnisweisen bestand.
Das Mädchen
Da war ein Mädchen, das unartig war.
Die Mutter war traurig.
Das machte dem Mädchen nichts aus.
„Was bist Du für ein seltsames Kind?
„Das ist nicht wahr“, sagte das Mädchen, „mir tut doch leid, was ich getan habe“.
„Wirklich wahr?“ sagt Mama.
Und sie benimmt sich nun immer.
Wie wir in dieser Geschichte sehen können. bereitet es dem Kind Vergnügen, die Mummtter zu verletzen. Die eigenen >schlimmen Bedürfnisse wurden erkannt und akzeptiert. Allein der Aussenwelt gegenüber wurde der Schein aufrechterhalten; das Kind passte sich an. Es „benimmt sich immer“ aber nicht von Herzen.
Ronald war im Begriff sich zu verändern. Er war entspannter, wenn er schrieb, er begann, seine Geschichten auf der Schreibmaschine zu tippen und aus dem gewonnen Abstand fing er an, sich für die ästhetischen Aspekekte (die Form) der Geschichten, die er machte, zu interessieren. Während der Spielsitzungen begann er seine Bedürfnisse offener zu äussern. So bat er mich, das Tonbandgerät abzustellen und erklärte warum. Er schien Angst zu haben, dass andere, wenn sie das Band hörten, vielleicht von ihm denken könnten, dass er verrückt sei oder ihn strafen würden. Er spielte einen Dialog zwischen dem Teufel und dem Engel. Beide hatten nun augenscheinlich Gefühle, die sie wechselseitig äusserten.
Ronald begann mir gegenüber offen ungehorsam zu werden. Gleichzeitig liess aber sein Bedürfnis, sich ungezogen zu betragen wesentlich nach. Am Ende von einer dieser Sitzungen fragte er: „Kennst Du den Witz über den Teufel? Er war ein Engel!“. Als dieser Punkt erreicht war, fand erneut eine ansehnliche Verändrung in der Thematik von Ronalds Erzählungen statt. Er begann Gefühle des Vertrauens zu äussernL: sich selbst einem Sachverständigen anzuvertrauen, der sich als ruhig erweist zu helfen und zu heilen. Er schrieb:
Der Wald
Da war ein Junge, der durch den Wald lief.
Er horte, wie sich etwas bewegte.
Es war ein Hirsch.
„Hilfe!“ schrie der Junge.
Aber der Hirsch war ein bisschen krank und blieb liegen.
„Der Hirsch ist wirklich krank“, dachte der Junge.
Er nahm ihn mit zu dem Waldaufseher.
„In zwei Tagen geht es ihm besser“.
„Das ist gut“. sagt der Junge.
Immer häufiger kamen zärtliche Gefühle auf. Das Erscheinen von Blumen und Pf1anzen in Ronalds Geschichten gab Zeugnis von der Frische, mit der er neue Aspekte des Erlebens zu erfahren begann. Ronald wurde immer frohlicher und entspannter. Da er nun offener war für seine Gefühle und mir mehr vertraute als zuvor, liess er es unmittelbar wissen, wenn sein Vertrauen zu wanken begann. Er lernte seine Interessen selbst zu vertreten. Als ich ihn einmal laut ansprach, liess er mich wissen, dass er kein Hund sei. Da nun sine Selbstannahme und sein Vertrauen in mich gewachsen war, wagte Ronald. seinen Käfig in der Tat zu öffnen. Seine unterdrückte Wut brach plötzlich durch. Eines Tags, kurz nachdem ihn sein Vater besucht hatte. schrieb er:
Sturm
Ein Junge lief nach draussen.
Aber es begann zu sturmen.
Es war Windstärke 12.
Der Junge erschrak vor dem Wind.
Der Junge lief ins Haus.
Hier bin ich sicher.
Unmittelbar danach synbolisierte Ronald sein Dilemma. Er erzählte einen beängstigenden Scherz über einen Mann, der zwischen drei Höllen wählen könnte: eine mit Stacheldraht und Blut, eine zweite mit Nägeln und Glas und eine dritte in der >Kacke<.
„O.K., ich wähle die dritt“. Ronald wagte endlich. seinen beschämenden negativen Gefühlen ins Auge zu blicken. Er rannte in das Spielzimmer und liess seincr gefrorenen Wut freien Lauf. Mit gewaltiger Kraft warf er den grossen stählernen Schrank um, und mehrere Stunden lang versuchte er, alles mögliche in die Hände zu bekommen, um es kaputzumachen, wobei - dank der Begleitung - doch kein wirklicher Schaden entstand.
Obgleich es schwierig war, ihm hierbei begleitend zur Seite zu stehen, und wir ihn .sogar für eine kurze Zcit in Gesellschaft eines Gruppenleiters isolieren mussten, fand die gefürchtete Vergeltung nicht statt.
Wie üblich hörten wir uns in der folgenden Sitzung einfach das Band an. Während der gleichen Sitzung bot sich ein neuer Erfahrungsaspekt für die Exploration an. Ronald kroch in den stählernen Schrank. Ich musste die Türe schliessen. Aus dem dunklen Innern des Schrankes hörte ich ihn die piepsende Stimme eines ängstlichen Kindes nachahmen. Als er mich bat ihn herauszulassen, kam er fröhlich nach draussen. Augenscheinlich war dies eine korrigierende emotionale Erfahrung fur ihn gewesen, wobei er Gefühle verarbeiten konnte, die durch sein früheres Eingeschlossen-sein verursacht waren.
Ronalds Vermögen, sich zu freuen, wuchs nun schnell. Er suchte körperlichen Kontakt. Sonnige Gefühle und Geselligkeit gaben den neuen Geschichten Farbe, auch kamen Freunde darin vor. Ronalds wachsendes
(Selbst-)Akzeptieren wurde dadurch symbolisiert, dass er die Wechselfälle der Natur akzeptierte.
Die Blume
Da war ein Junge, der eine Blume bekam.
Er war sehr glücklich über die Blume.
Er lief den ganzen Tag damit herum.
Aber die Blume vertrocknete
Der Junge war traurig.
Aber so ist die Natur.
Ein paar Wochen später hörte die Serie allmählich auf. Ronald begann spontan und ausführlich über seine traumatischen Erlebnisse zu reden, mit denen er als junges Kind konfrontiert worden war. Auch sprach er über die Gefühle welche sie in ihm wachgerufen hatten und wie sie auch jetzt noch sein Erleben beeinflussten. In der Klinik, zu Hause und in der Schule berichtette man inzwischen von ansehnlichen positiven Veränderungen auf Verhaltens- und Erlebnisniveau.
Achl Monate später, ein Jahr nach Ronalds erster Erzählung, hörten wir noch einmal gemeinsam das ganze Band an. Ich bat ihn, noch ein letztes Mal eine Geschichte zu schreiben und gab ihm den gleichen Titel, mit welchem er die Therapie begonnen hatte. Ronald schrieb:
Der Teufel und der Engel
lch hab das nicht mehr nötig.
Ich hab da nichts mehr damit zu tun.
Das war früher wichtig.
Ich weiss es nun besser.
Ronald bestimmt selbst, was in meinem Leben geschieht.
Ronald macht einfach alles selbst und macht es gut.
Teufel und Engel sind Märchen und Fabeln.
Eingebettet in ein akzeptierendes Milieu, worin er ohne meine Einmischung alles hervorkommen lassen konnte, was sich von innen her anbot. Gutes wie Böses, war Ronald fähig geworden, eine eigene Identität zu entwickeln.
Abschluss
Zum schluss möchte ich noch einen Gesichtspunkt hervorheben. Zu diesem Zweck wollen wir zu Franz Kafka zurückkehren. Während einem seeiner späteren Spaziergänge mit Gustav Janouch, wurde Kafka eine chinesische Geschte erzählt
„Das Herz ist ein Haus mit zwei Schlafkammern. In der einen Kammer wohnt das Leid und in der anderen die Freude. Man darf nie allzu laut lachen, sonst weckt man den Kummer in der Nebenzimmer.“
Andererseits kamen die zwei Männer zu dem Schluss, dass die Freude schwerhörig ist, sie hört das Leid in der Nebenkammer nicht. „Darum tut man oft auch nur so, asl ob man sich freuen würde“, sagte Kafka. „(....) Ich heuchle Fröhlichkeit, um hinter ihr zu verschwinden. Mein Lachen ist eine Betonwand... Natürlich gegen mich“. Janouch war erstaunt. Seiner Meinung nach war die Mauer, über die sie sprachen, nach aussen gerichtet.Aber Kafka wandte sich mit Nachdruck dagegen: „Der Griff nach der Welt ist deshalb immer ein Griff naach innen. (...) Denn Innen und Aussen gehören zusammenn. Von einander losgelöst sind es zwei verwirrende Ansichten eines Geheimnisse, das wir nur erleiden, aber nicht enträtseln können.“ (Janouch 1968, S. 57)
In Ronalds Therapie gab ich bewusst keinen Kommentar hinsichtlich seiner anfänglich verkrampten Munterkeit. Auch in algemeiner Hinsicht sprach ich zu ihm kaum einmal darüber, was sich in unserer Beziehung abspielte. Ich versuchte nicht, durch Konfrontieren die Mauer abzubrechen, die er mir gegenüber nötig hatte. Ich akzeptierte sie als etwas, dessen er bedurfte und bot ihm das Milieu, welches ihm ermöglichte, an seinem Zwiespalt zu arbeiten. Mit dem Abbröckeln seiner innerlichen aufgerichteten Mauer löste sich die nach aussen gewandt Fassade von selbst auf. Wo er so viel Energie strategisch eingesetzt hatte, um nicht entdeckt zu werden, begann Ronald nun auf authentische Weise spontaner zu sprrechen. Jetzt war es zeitig genug, um, wenn nötig, das zu kommentieren, was in unserer Beziehung geschah.
Literatur
Coffeng, T.: Focusing en rouwtherapie, in: R. van Balen, M Leijssen, G. Lietaer (Eds), Droom en werkelijkheid in client-centered psychotherapie, ACCO-Verlag. Leuven/Amersfoort, 1988 . |
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Depestele, F.: Enkele notities bij de eerste beweging van focusseren, unveröffentliches Manuscript, 1983 . |
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Gendlin, E T.: A theory of personality change, in P. Worcheeh/D Byrne (Eds.) Personality change, New York, 1964
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Grindler, D.: Clearing a space with a borderline client, in: The focusing Folio 2 (1) S. 5-10, 1982 . |
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Janouch, Gustav: Gespräch mit Kafka, Fisher-Verlag, Frankfurt a. M. 1968 . |
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Kafka, Franz: Briefe an Milena, Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 1952
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McGuire, M.,: Clearing a space with two suicidal clients, in The Focusing Folio 2 ( I ), S 1-4, 1982 . |
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Santen, B.: „Working with a Frozen Whole Structure“, in The Focusing Connection, III, 5, 1986
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Santen, B./Gendlin, E.T.: Focusing, in Psychologie, 1985 |