Skip to main content

Humanistischer Ansatz in der Pädagogik

Bernadette Bauer-Stuhlmann

 

Unter diesem Titel schrieb ich im SS 1998 meine Diplomarbeit. Motivation für das Thema waren die eigenen Erfahrungen, die ich in der Ausbildung zur Focusing-Begleiterin, in zahlreichen Workshops mit Gene Gendlin, dem Begründer des Focusing und langjährigen Mitarbeiter Carl Rogers und in zahlreichen Selbsterfahrungsgruppen gemacht hatte. In meinem Studium versuchte ich diesen Ansatz selbst umzusetzen. In meinem 40tägigen theoriebegleiteten Praktikum und dem Blockpraktikum übertrug ich das humanistische Menschenbild und den therapeutischen Ansatz auf die Kinder im Schulkindergarten, der in einem sozialen Brennpunkt lag.

Der Versuch stellte sich als erfolgreich heraus.

 

Auf der einen Seite ging es darum, das Chaos der Kinder zu ordnen, auf der anderen Seite, ihnen Hilfen zu geben, ihre individuellen Entwicklungsrückstände aufzuholen, um für das kommende Schuljahr "schulreif"zu sein. Mein Anliegen war es, dem Chaos, der Unruhe und Aggressivität der Kinder nicht durch Disziplinierung, Dominanzverhalten oder Strafen zu begegnen, sondern,mithilfe Rogers Basisvariablen Empathie, Akzeptanz und Kongruenz,das in den Kindern vorhandene Potential zur Selbstentfaltung zu aktivieren und sie allmählich in eine Ordnung zu führen.

Im Laufe des Jahres beobachteten die Erzieherin und ich eine positive Entwicklung bei den Kindern: Sie bildeten von alleine Spielgruppen mit Gruppendynamik, verhielten sich aus sich heraus in einer Situation, wo es einem Kind schlecht ging, ruhig und diszipliniert, fanden alleine Lösungen für Probleme und entwickelten einen Gruppengeist. Auch eine allgemeine Harmonisierung der Persönlichkeit war zu beobachten.

 

In meiner Diplomarbeit führte ich den theoretischen Hintergrund aus und die Beobachtungen, die ich mit diesem Ansatz bei der Arbeit mit den Kindern machen konnte. Von Natur aus ist es schwierig, dies im Sinne der akademischen Psychologie, die naturwissenschaftlich-positivistisch orientiert ist, zu beweisen, da es in der HP um das dem Menschen innewohnende Potential zur menschlichen Vervollkommnung geht. Da jeder Mensch anders ist und auch eine ihm spezifische Art von Defiziten aufweist, kann es schwer in der naturwissenschaftlich-positivistischen Art der wissenschaftlichen Untersuchung (Thema, Fragestellung, Untersuchung; Überprüfung an Kontrollgruppen) untersucht und bewiesen werden.

Carl Rogers untersuchte seine zahlreichen Tonbandaufzeichnungen von Therapiesitzungen nach wissenschaftlichen Richtlinien, formulierte daraus Hypothesen und wendete sie wieder auf seine Klienten an, wo sie sich als stimmig erwiesen. Meine Annahme, daß die Basisvariablen wirksam bei den Kindern waren beruht darauf, daß ich Unterschiede in den Reaktionen der Kinder wahrnehmen konnte wenn iin ihrem Sinne gehandelt wurd oder nicht. Die Reaktionen können in bestimmte Kategorien eingeordnet werden, die ich bei den Workshops mit Gene Gendlin wieder finden konnte oder in Carl Rogers Literatur.

Der wissenschaftliche Hintergrund der Humanistischen Psychologie ist die Phänomenologie. Charlotte Bühler thematisiert dieses Problem folgendermaßen:"Humanistische Psychologen sind in erster Linie Menschen, und erst in zweiter Linie Wissenschaftler. Selbst wenn sie beobachten,

beanspruchen sie nicht, "objektiv" zu sein. Sie bemühen sich darum, in den höchst subjektiven zwischenmenschlichen Beziehungen Methoden zu entdecken, die "personengebundenes Wissen" um den anderen Menschen vermitteln kann(...). Diese Anweichung von der wissenschaftlichen Tradition, verbunden mit dem Bewußtsein seiner Grenzen als Beobachter und Interpret menschlichen Verhaltens hat den humanistischen Psychologen verletzlich gemacht. Gerade diese Verwundbarkeit versucht er aufrechtzuerhalten, denn da er an das neue Modell vom Menschen als dem Subjekt des Erlebens glaubt, muß er sich dem Erleben stellen"(Bühler/Allen 1974,28)

 

Die Humanistische Psychologie wurde in den sechziger Jahren in den USA als sogenannte "3. Kraft", neben den beiden anderen psychologischen Schulen, dem Behaviorismus und der Psychoanalyse, gegründet. Zu ihren Hauptgründungsmitgliedern zählten u.a. A. Maslow, Carl Rogers und, wie bereits zitiert, Charlotte Bühler. Motivation dazu war das Unbehagen, den Menschen nur als durch die Umwelt manipuliertes, defizitäres oder triebgesteuertes Wesen zu betrachten. Maslow meint dazu:"als Therapeut und Personologe habe ich auch folgende Erfahrungen gemacht: Wenn ich etwas mehr über die individuelle Person eines Menschen erfahren will, muß ich ihn als Einheit, als Eines, als Ganzes angehen. . Ich muß, wenn ich Sie kennenlernen will, nicht nur ganzheitlich, (holistisch) wahrnehmen, ich muß Sie auch ganzheitlich und nicht reduktiv analysieren.

Die übliche wissenschaftliche Technik der Zergliederung und der reduktiven Analyse, welche sich in der anorganischen Welt und einigermaßen sogar in der infrahumanen Welt lebender Organismen bewährt hat, ist denkbar ungeeignet, wenn man einen Menschen als Person zu erkennen sucht, und sie weist selbst bei der Untersuchung der Menschen im allgemeinen effektive Mängel auf" (Maslow 1977,31).Und weiter:".die Untersuchung relativgesunder Menschen und ihrer charakteristischen Eigenschaften .. warfen neue Fragen auf über das Wesen des Normalen, der Gesundheit, der Güte, der Kreativität und Liebe, über die Natur unserer höheren Bedürfnisse, der Schönheit, Neugier, Erfüllung, über das Wesen des Heroischen und des Göttlichen im Menschen, des Altruismus und der Hilfsbereitschaft, der Liebe zur Jugend und des Schutzes der Schwachen, des Mitgefühl und der Selbstlosigkeit und Humanität, der Größe und der transzendenten Erlebnisse der höheren Werte"(ebda. ,35f.). Wie bereits erwähnt habe ich im Laufe des Schuljahres bei den Kindern eine Entwicklung beobachten können, die, von Chaos und Aggressivität sich hinwegentwickelte in Richtung Harmonisierung, Sinn für Ordnung, Schönheit und Gruppengeist.

Im Mittelpunkt steht für die HP das Selbst des Menschen und sein Erleben. Carl Rogers spricht in diesem Zusammenhang von dem, jedem Menschen eigenen Drang zur Vervollkommnung, die er "Aktualisierungstendenz" nennt. Charlotte Bühler spricht von der "Verfolgung von Lebenszielen", und A. Maslow von der "Selbstverwirklichung"(vgl. Arnold/Eysenck/Meili(Hrsg.)1971,116).

A.Maslow und Carl Rogers sind darüber hinaus der Meinung, daß der Mensch zwar von Kind auf eine eigene Wertebildung hat, sie aber zugunsten seiner Mitmenschen aufgibt, wenn seine Werte mit den Wünschen der Umwelt nicht übereinstimmt(vgl. Rogers/Stevens 1984,39ff.). Das führt zu einer sog.

"Inkongruenz", die den Menschen unzufrieden, ja neurotisch werden lassen kann, und ihn von seinem Selbst entfremdet. Rogers Anliegen in der Therapie ist es, mithilfe der Basisvariablen Empathie, Akzeptanz und Kongruenz dem Klienten einen Raum zur Verfügung zu stellen wo er sich sicher und akzeptiert fühlt und wieder zu sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen , finden kann.

Das gibt der "Aktualisierungstendenz" auch die Möglichkeit aktiv zu werden; der Klient kann in Richtung Selbstvervollkommnung und Gesundung voranschreiten.

A.Maslow unterscheidet sog. "Grundbedürfnisse" und "Wachstumsbedürfnisse". Zu ersteren zählt er: Schlaf, Nahrung, Sex, Sicherheit, Liebe u.a. . Zu letzteren: Gerechtigkeitssinn, Schönheit. Sinnhaftigkeit, Ordnung, Individualität, Wahrhaftigkeit u. a. . Nach seiner Auffassung muß der Mensch zuerst die Grundbedürfnisse befriedigt bekommen, bevor er sich den Wachstumsbedürfnissen zuwenden kann. Dazu kann er vorübergehend auch das Bedürfnis nach Sicherheit aufgeben. (vgl. Stalmann 1982,264f).

 

Meiner Meinung nach habe ich als Pädagogin die Möglichkeit, den Kindern den Raum für die Entwicklung der Wachstumsbedürfnisse zu öffnen wenn ich ihnen im Sinne der Basisvariablen begegne, da sie sich dann sicher und akzeptiert fühlen können. Wichtig erschien es mir, somit korrigierend auf chaotisches und aggressives Verhalten der Kinder einzuwirken. Meiner Meinung nach werden Chaos und Aggressivität weniger, wenn der Sinn für Ordnung Schönheit, Gerechtigkeit etc. in den Kindern geweckt wird.Im Laufe des Jahres konnte ich auch beobachten, daß die Kinder ein Verständnis für Ordnung, einen Sinn für Schönheit und soziales Verhalten entwickelten

 

Ich konnte auch beobachten, daß sich mein "Bild", das ich anfangs von ihnen hatte, sich im Laufe des Jahres veränderte. Ich war nicht nur "Lehrende", sondern, in der Beziehung mit den Kindern und im Dialog mit ihnen, auch "Lernende".In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Werk Paulo Freires"Pädagogik der Unterdrückten" hinweisen. Darin unterscheidet er zwischen dem "Bankiers-Konzept", wo der Lehrer die Schüler mit Inhalten füllt,und dem "Dialog". Er bezeichnet das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler beim "Bankiers-Konzept" als "Macht" und "Ohnmacht", beim anderen als Dialog zwischen zwei gleichberechtigten Partnern, wobei der eine vom anderen lernt und ihn lehrt. Ausgangspunkt ist dabei nicht das "Wissen einer "Elite", sondern der Dialog über das Erleben und die realistische Situation der Schüler(vgl. Freire 1973,57ff.).

Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem Schulkindergarten anführen: Ich spielte den Kindern den "Bolero" von Maurice Ravel vor. Mein Ziel war, mit den Kindern zu erarbeiten, daß während des ganzen Stückes ein Thema immer wieder in verschiedenen Variationen wiederkehrt. Die Reaktion der Kinder war zunächst, daß sie unruhig waren. Ein Kind machte sehr zackige und ulkige Bewegungen und führte sie, auf meine Aufforderung hin, uns vor. Ich war in meiner spontanen Reaktion ärgerlich wegen der Unruhe der Kinder und dem "Unsinn", den sie "trieben", auch, weil sie mir nicht die Antwort gaben, die ich hören wollte. Bevor ich meiner Verärgerung Ausdruck verleihen wollte, fragte ich das Kind, warum es das mache. Die Antwort war: Es war am Tag zuvor mit seinem Vater bem Schützenfest gewesen und machte, durch die Musik animiert, den Schritt der Schützen nach. Ich hörte daraufhin näher auf den Rhythmus hin und nahm war,

daß hier tatsächlich ein Marschrhythmus war, den ich vorher noch nie bewußt wahrgenommen hatte. Das Kind hatte, aus seinem Erleben heraus, stimmig auf meine Frage geanwortet. Ich fragte noch mehrere Kinder, mit dem gleichen Ergebnis. Ich lernte dabei ganz neue Aspekte der Musik kennen. Ich war primär auf die rationale Ebene, der digitalen, fixiert. Die Kinder hatten (noch) kein Bewußtsein dafür. Zum Schluß erzählte ich den Kindern meine Wahrnehmung, und sie waren sehr interessiert, erstaunt und offen für die Neuigkeit. Mir wurde auch bewußt, daß, biete ich den Kindern unruhige Musik an, sie auch darauf unruhig reagieren würden.

Im Laufe des Jahres stellten die Erzieherin und ich immer wieder fest, daß die Kinder Schwierigkeiten hatten, von der analogen in die rationale Ebene überzuwechseln. Ich versuchte, diie Kinder spielerisch darauf hinzuführen. Der Analytiker und Pädagoge Jean Piaget spricht davon, daß im Alter von ca. 7 Jahren Kinder von der sinnlichen Ebene auf die der rationalen Operationen überwechseln(vgl. Piaget 1994).Ich machte dazu folgendes Experiment: Ich spielte den Kindern Chopin-Walzer vor (was sie mit Begeisterung aufnahmen) und forderte sie auf, dazu frei zu malen. Sie taten es mit viel Spaß, jedes auf seine typische Weise. Dabei machte eines den Versuch, die Dynamik laut/leise, langsam/schnell, graphisch darzustellen.

Hier bin ich bei den wesentlichen Elementen der Humanistischen Pädagogik: Freiheit und Kreativität im Lehren und Lernen(vgl. auch Fuhr:Handlungsspielräume im Unterricht:lebendige Lernsituation gestalten u.

auswerten). Als Pädagogin stelle ich den Kindern geeignete Hilfsmittel zur Verfügung, die sie in freier Wahl und nach ihrer eigenen Kreativität gebrauchen können. Meine Ziele sind dabei richtungsweisend und gebe einen allgemeinen Rahmen; die Kinder können sich nach ihrer eigenen Art und ihrem Tempo die Lösungen suchen. Von meiner jahrelangen Tätigkeit in der Naturheilmedizin habe ich einen Aspekt mit in die Pädagogik hineingenommen: Der Mensch hat in sich eine Selbstheilkraft. Sie wird aktiv, je weniger ich in die natürliche Ordnung, die Homöostase, eingreife; oder anders gesagt: je mehr ich dem Individuum einen natürlichen Raum zur Verfügung stelle, desto besser kann sie im Menschen wirken.

 

Wilhelm v. Humboldt, ein Vertreter des Neu-Humanismus formuliert den Begriff "Humanistische Bildung" folgendermaßen: Es ist ein Verstehen, nicht nur ein Vorgang des Verstandes, sondern eine "Annäherung mit allen Geisteskräften, mit Beobachtung, Phantasie und spekulativen Denken, ebenso wie mit prüfender Rationalität"(Flitner(Hrsg.):Humboldt,140).

Ich würde für mich den "humanistischen Ansatz" folgenderweise definieren: Im Beziehungsstil im Sinne Carl Rogers Basisvariablen: Empathie, Akzeptanz, Kongruenz (vgl. Tausch/Tausch 1998) und in der Lehre im Sinne W. v. Humboldts: ganzheitliches Lehren und Lernen in Freiheit und mit Kreativität.

 

 

Wer sich für das Thema näher interessiert: Ich habe es in meiner Diplomarbeit ausführlicher , mit Aufweisen der theoretischen Hintergründe(humanistisches Menschenbild) beschrieben; ebenso liegt im Diplomarbeitenraum eine kurze Zusammenfassung des Diploms mit praktischen Beispielen vor.

 

Vertiefend möchte ich noch auf folgende Literatur hinweisen:

ALLEN, Melanie / BÜHLER, Charlotte: Einführung in die Hum. Psychologie.
Stuttgart:Ernst Klett Verlag 1974.
.
ARNOLD, W./ EYSENCK, H.J./ MEILI, R.(Hrsg.): Lexikon der Psychologie 2. Band.
Freiburg/Breisgau-Basel-Wien:Herder Verlag 1971.
.
FUHR. Reinhard: Handlungsspielräume im Unterricht: lebendige Lebenssituation gestalten und auswerten.
Königstein/T.:Scriptor Verlag GmbH &Co KG.Wissenschaftliche Veröffentlichungen 1979.
.
FREIRE, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit.
Reinbek b. ,RowohltTaschenbuch Verlag GmbH 1973.
.
FLITNER, Andreas Wilhelm v. Humboldt: Schriften zur Anthropologie und Bildungslehre.
Verlag Helmut Küpper vormals Georg Bondi. 2. Auflg.
.
GENDLIN, Eugene T.:Focusing: Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme.
Salzburg: Otto Müller Verlag 1981, 6. Auflg.
.
HOCHGRÄFE, Harold: Das Erziehungskonzept in der Hum. Psych. A. Maslows.
Centaurus Verlagsgesellschaft 1988.
.
MASLOW, A.H.: Die Psychologie der Wissenschaft.
München: Wilhelm Goldmann Verlag 1977.
.
MONTESSORI, Maria: Kinder sind anders.
Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1967,8.Auflg.
.
PIAGET, Jean: Theorien und Methoden der modernen Erziehung.
Frankfurt,M.:Fischer Taschenbuch Verlag GmbH 1994.
.
ROGERS, Carl / STEVENS, Barry: Von Mensch zu Mensch. Paderborn1984.
.
ROGERS, C./ SCHMID, P.F.:Person-zentriert. Mainz:Matthias Grünewald Verlag 1991.
.
ROGERS, Carl: Die Kraft des Guten. München: Kindler Verlag 1974.
.
ROGERS, Carl:Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart:Klett-Cotta-Verlag 1994.
.
ROGERS, Carl: Lernen in Freiheit. Zur Bildungsreform in Schulen und Universität.
München, Kösel Verlag 1974.
.
TAUSCH, Anne-Marie/Tausch Reinhard: Erziehungspsychologie.
Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Verlag für Psychologie Hogrefe 1998;11.Auflg.

.
Bernadette Bauer-Stuhlmann