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GANZHEITLICHES LERNEN

BARBARA UND JEAN-PIERRE CRITTIN

Ein Mensch, der mit einer Situation oder Information konfrontiert wird, reagiert als ganzer Mensch. Es läuft bei ihm etwas ab, das sich geistig, körperlich und gefühlsmäßig manifestiert und insgesamt ein ganzheitliches Erlebnis erzeugt. Dieses ganzheitliche Erleben, welches ja im Focusing eine wichtige Rolle spielt (felt-sense), bezeichnen wir beim ganzheitlichen Lernen als “Befindlichkeit”.

Im herkömmlichen Unterricht wird dem Umstand der ganzheitlichen Informationsaufnahme nicht Rechnung getragen. Vielmehr spielt sich der Unterricht vorwiegend im geistigen (kognitiven) Bereich ab, das Gefühlsmäßige und Körperliche wird nicht oder fallweise nur isoliert von den übrigen Modalitäten beachtet. Dies führt unseres Erachtens dazu, dass der Lernende immer nur einem Teil der tatsächlichen Wirkung einer Information Aufmerksamkeit schenkt und sich so nie seiner gesamtheitlichen Erlebensweise bewusst wird. Der häufig beobachtete Informationsverlust (Vergessen) und der Umsetzungsverlust ist in die Praxis (Transferverlust) rührt daher, dass der Lernstoff nie in seiner tatsächlichen, ganzheitlichen Wirkung, sondern immer nur teilweise, in einer isolierten Modalität erfasst wird. Dies bedeutet, dass der Stoff zwar allenfalls im Kopf des Lernenden gespeichert, jedoch nicht „verdaut“ ist; d.h. der Lernstoff ist nicht zu einem Teil des Lernenden geworden. Der Sprung von der intellektuellen Informationsaufnahme zur Anwendung wird dem Lernenden überlassen, der damit häufig überfordert oder durch ursprünglich anders gerichtete Automatismen gestört ist, die ja schneller sind, als der bewusste Denkvorgang. Auch wenn im Unterricht von der gefühlsmäßigen Reaktion gesprochen wird, behandelt man wieder nur einen aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissenen Teil der Stoffaufnahme.

Etwas nicht zu können, heisst noch lange nicht, dass es nicht verstanden oder gespeichert worden ist. Es kann auch durchaus daran liegen, dass der Lernende den Stoff nicht verdaut hat, indem er ihn nicht in seiner individuellen, ganzheitlichen Tragweite erfasst hat.

Beim ganzheitlichen Lernen wird der Umfassenden Befindlichkeit des Lernenden zum Stoff besondere Beachtung geschenkt. Die Informationsvermittlung erfolgt möglichst erlebnisbezogen; das heisst, der Lernende wird in einer erlebnismässigen Form direkt mit dem Lernstoff konfrontiert (induktives Lernen). Das Erleben des Lernenden rückt anschliessend beim Vertiefungsgespräch („ganzheitlicher Dialog“) ins Zentrum.

Hier soll ihm seine ganzheitliche Befindlichkeit bewusst werden, indem der Unterrichtende ihm die Möglichkeit gibt, im Gespräch seiner Befindlichkeit nachzuspüren. Der Unterrichtende hat dabei die Aufgabe, den Lernenden in die Methode dieses Bewusstwerdungsprozesses einzuführen und ihn anfänglich dabei zu begleiten, später ihm die Zeit und die Möglichkeit zu geben, seine Befindlichkeit selbst oder in kollegialer Begleitung durch andere Lernende aufzuspüren.

Das ganzheitliche Lehren und Lernen ist ein neuer pädagogischer und andragogischer (erwachsenenbildnerischer) Ansatz, aus dem einzelne Elemente und Methoden auch in den üblichen Unterricht eingebaut werden können. Wer diesen Ansatz jedoch konsequent verwenden möchte, ist unter Umstände gezwungen, seinen Unterricht oder sein Schulkonzept neu zu überarbeiten.

 

Die Erfahrungen mit ganzheitlichem Lehren und Lernen

Die Erfahrungen zeigen, dass die Lernenden mit. einer höheren Motivation lernen, als bei den meisten herkömmlichen Lehrmethoden, weil sie dem Lernstoff erlebnismässig begegnen, indem ihre Erfahrungen ernsthaft aufgenommen und weiter verarbeitet werden. Durch das Gewahrwerden der ganzheitlichen Befindlichkeit, wird dem Lernstoff die für die Umsetzung entscheidende, individuelle, persönliche Beziehung gegeben. Dies bewirkt, dass der Lernstoff ganzheitlich aufgenommen und damit der Lerngewinn wesentlich höher wird, als bei den herkömmlichen Methoden.

Der Preis für die Verbesserung der Informationsaufnahme besteht darin, dass sich der Unterrichtende bei der Vorbereitung eine erlebnismässige Begegnung mit dem Lernstoff einfallen lassen muss. Er muss dadurch und für den ganzheitlichen Dialog für die einzelnen Themen mehr Zeit einsetzen. Die Erfahrung zeigt, dass mit einem zeitlichen Mehraufwand für den Unterricht von ca. 10 % - 20 % zu rechnen ist; ein Mehraufwand der durch die oben erwähnte Vorteile gerechtfertigt ist, zumal ein Teil der Zeit wieder wettgemacht wird, indem Repetitionen, die ohnehin langweilig sind, weitgehend weggelassen werden können. Zudem tut der ganzheitlich Unterrichtende, der vermehrt mit dieser Methode arbeiten möchte, gut daran, seine Lernenden anfänglich in ein bis zwei Lektionen in das Aufspüren der Befindlichkeit (Erfassung des felt-sense) einzuführen, damit diese mit der Zeit in der Lage sind selbständig diesen Prozess durchzuführen oder Kollegen hilfreich zu begleiten. Dabei fällt ein „Nebenprodukt“ ab, indem der Lernende bei dieser Einführung eine Erhöhte Sensibilität ,im Sinnen von ganzheitlicher Selbstwahrnehmung enwickelt und zudem lernt, einen Menschen in einem Problemgespräch hilfreich zu begleiten.

In der Praxis haben wir „Gannzheitliches Lehren und Lernen“ bereits in sehr vielen, unterschiedlichen Kursen praktisch angewendet: z.B. in Führungsseminaren für Vorgesetzte, in Methodik-Didaktik-Kursen für „Musikalische Früherzieher“, für Entwicklungsingenieure einer Grossfirma, für betriebliche Ausbilder einer Grossbank und in anderen Kursen.

 

Das erste Seminar zum ganzheitlichen Lehren und Lernen

In Sommer 1985 wurde vom „Zentrum für ganzheitliches Lernen“ein erstes, fünftägiges Seminar in Brienz durchgeführt, bei welchem es darum ging, Pädagogen in die ganzheitliche Lehr- und Lernmethode einzuführen. Bei den zehn Teilnehmerinnen handelte es sich um Lehrerinnen für die Krankenpflege, Unterrichtsassistentinnen, Kliniklehrerinnen und eine Lehrerin für Ergotherapie.

Im Seminar wurden dei Teilnehmerinnen zuerst auf ganzheitliche Weise mit dem Focusing und den Grundgedanken des ganzheitlichen Lehrens und Lernen vertraut gemacht. Im zweiten Teil bekamen sie Gelegenheit, anhand eigener, mitgebrachter Lektionen die neue Methode auszuprobieren. In den Auswertungsgesprächen wurden Erfahrungen ausgetauscht und die Methode des ganzheitlichen

Unterrichtens vertieft.

Die anfänglich skeptische Offenheit verwandelte sich im Laufe des Seminars bei den meisten Teilnehmerinnen in die Überzeugung, dass die Elemente des neues Ansatzes in ihren Unterricht eingebaut werden können und dass diese zur Verbesserung des Unterrichtes beitragen. Spontane Rückmeldungen einiger Teilnehmerinnen, nach dem Kurs, haben uns dies auch bestätigt.

 

Die weitere Projekte

Nebst der weiteren Forschung im Bereich „ganzheitliches Lernen“ und der Arbeit mit Projektgruppen zu bestimmten Fragestellungen aus der Methodik-Didaktik und der Lern- und Denk-psychologie, wird das

„Zentrum fur ganzheitliches Lernen“ weitere Methodik-Didaktik-Kurse mit dem ganzheitlichen Ansatz anbieten. Daneben werden auch Kurse mit anderen Themenstellungen durchgeführt, in denen mit der ganzheitlichen Lernmethode gearbeitet wird; so zum Beispiel eine Ausbildung für „Klinische Schulschwestern“ und ein psychologischer Lern- und Selbsterfahrungskurs: „Psychologie erleben - Psychologie lernen“.